Zeichen so nah wie der eigene Atem

Sind wir alle mit dem Künstler, den Zeichner Karl Peter Muller verwandt? Oder worin besteht sonst diese Hingezogenheit zu seinen zum Teil winzigen Skizzen, die er in den SKIZZENBÜCHERN FÜR EINE Zeit zu versammeln scheint, in der Zeichnen einer Vergangenheit zugehörig sein wird.

Diese Zeichnungen erscheinen mir wie entzündet und ich meine jene Entzündung, die irgendwo auf der Haut entstehen kann ebenso wie die, die sich einer Lunte entlangbrennt... Karl Peter Muller ist ein Besessener und er ist ein großer Liebender. Als ewig Gebender hat er kaum bis keine Reserven und muss aus diesem Grund darauf bestehen, dass die Welt ihn so liebt wie er sie. Das ist Erfahrungssache und letztlich abseits von allem Egoismus. Karl Peter Muller ist, ja er muss zwangsläufig ein Egoist sein und doch ist er nicht auch genauso zwangsläufig das Maß aller Dinge? Ich erinnere mich, wie er angesichts eines seiner wundervoll komponierten Vogel-Gemälde sagte, dass Penk ein ähnlich sicheres Gespür für das Setzen von Konstellationen habe. Aber ich sollte mich auf KPM, wie er genannt wird, als Zeichner beschränken und konzentrieren - konzentrierend beschränken also.

Der Künstler zeichnet alles. Wer die Skizzenbücher ansieht, diese über das verhältnismäßig mittlere Format der Folianten sieht und feststellt, dass die dort „wie gebändigt“ agierenden Protagonisten an fast allen Stellen des weißen Untergrunds aus dem Hintergrund heraus in unsere Phantasie und von dieser geradewegs in die Erinnerung streben, wer diese Wirkung „auf sich selbst“ registriert hat, muss wahr-nehmen, dass er es mit einem lebendigen Aspekt der Kunst zu tun hat.

Hat dieser Mensch dieselbe Temperatur wie wir? Oft erscheinen mir seine Zeichnungen wie von einem Angefallenen fixiert, von einem Fiebrigen niedergeschrieben... ein flüchtiges Testament vielleicht, ein wertfreies Glaubensbekenntnis. Die Investition eines umfassend Verliebten. KPM zeichnet, sagte ich, alles. Er muss alles zeichnen, weil alles sein Interesse erweckt. Und wenn dieses geweckt - wach - ist, treibt es dem Künstler Bleistift, Filzschreiber, Tuschefederhalter oder Rohrfeder in die Hand... scheint ihm das r i c h t i g e, technische Werkzeug zuzuwehen.

Graphit kommt auf Rötel vor. Bei KPM ist alles - habe ich festgestellt - ist alles möglich, zumindest wird alles versucht - und vieles gelingt.

Der Künstler liebt Fische, ihre Form und ihre komplexe Farblichkeit... ist es eine Begegnung mit „seinem Ur-Fisch“ oder eine prophetische mit dem Tier künftiger Tage? Fragt man sich, dabei ertappend, dass man für den „seltsam gefesselt“ wirkenden Fremdling aus dem nassen Element Sympathie empfindet. Empfand man diese nicht überhaupt nur und wenn nicht generell, so doch vielleicht stärker, tiefer in Gesellschaft des Künstlers, jener seiner Fisch-Darstellungen, seiner Bilder allgemein?

KPM kann anregend und inspirierend wirken, er konnte das schon immer. Nach einer gemeinsamen Zeit in München, haben wir nur noch sporadisch und über Dritte voneinander gehört. Er wurde reich und er wurde gefleddert. Seinem Selbstverständnis nach Künstler - er schreibt Gedichte und Prosatexte, macht Gesang-Performances und ist Schöpfer keramischer Skulpturen, ist in jeder der bildenden Künste bis hin zu Installationen und Glasfenstern zu Hause...

Muller leidet wie er liebt, mit ganzem Herzen, der ganze Mensch und selbst sein Husten und er formt - wie Orpheus, dem meine Freundin, die griechisch-amerikanische Lyrikerin Eleni Fortouni unterstellt, er habe sich im Hades voll Absicht nach Euridike umgesehen, um ihren Verlust in Versen betrauern zu können... Karl Peter Muller formte aus diesem Leid neue Bilder, denn nur was ihm tatsächlich nahe war, konnte er uns auch anhaftend mit-teilen. Mullers Bilder haften an. Noch heute ist mir das Gesicht jenes vollblütig-entgleisten Insassen im „Narrenschiff“ von 1950 gegenwärtig; die gewandte Gewalt des Stieres auf den frühen Kampfszenen Mann gegen Tier, der hüpfend-pickende Hühner-Strauß, der ebenfalls eine Zeichnung war (mit dem ich damals meinen Zahnarzt bezahlte).

In einem der Skizzenbücher fand ich den faszinierenden Auftritt eines „Barschballetts“, das mich an einen Kartengruß nach Jahren des Nichttreffens erinnerte. Nicht mehr und nicht weniger als zwei Fische, die da liegen und wie ich noch gut weiß, meinen Puls irritierten.

„Ich nehme die Emotion an, auch wenn sie beunruhigt oder erschreckt“, schrieb Muller irgendwo, gut tut er daran. Denn dieser Mann, der mir die Temperaturkonturen seiner Motive, seines Modells jeder Art lediglich wie nachzuzeichnen scheint. Überall in diesen Zeichnungen sind zeichen-hafte Details seiner kreativen Er-Regung, einer anderebenen Entschlossenheit sichtbar, winken uns vertraulich zu.

Karl Peter Muller zeichnet eigentlich und so sind seine jetzt vielleicht 30 Skizzenbücher im Grunde Heimat eines einzigen „Reigens“, eines Tanzes aus einfachen und höchst komplizierten Schrittfolgen und Sprüngen. KPM zeichnet, Wahlspanier der er seit vielen Jahren ist, immer wieder Stiere, den Lauf der Stiere, den Gang gegen die Toreros, er zeichnet sie in vollem Drang, er stellt sie friedlich weidend dar, liegend, rennend, kraftsprühend, aggressiv und harmlos, zeichnet Stierköpfe mit fetischhaftem Haarwuchs, zottelig-wild und glänzend, wie gebügelt glatt, stehend, hufend mit schwellenden Schenkelmuskeln, melodischen Rücken, immer wieder auch Stierphysiognomien; man spürt die Zuneigung des Künstlers zu diesen Tieren, diesem Sinnbild der Kraft und der kreatürlichen Herrlichkeit. Was für ein Gefühl muss es für ihn sein, diese Ur-Wüchsigkeit aus seiner Feder fließen zu sehen, die Spontaneität, die immer ernsthaft dekorativen, spannungsgeladenen Einfälle des Stieres in die Zeichnung gegossen - zu erleben. Ja, ums Er-Leben geht es dem Zeichner, um die „wesentliche Ausprägung des Modells, ob es jetzt der Stier oder morgen Tara“, die Muttergöttin seiner maltesischen Drittheimat ist, eine kleine keramische Skulptur, ernst und dabei heiter wie ein am Leben orientiertes Gebet.

Karl Peter Mullers Zeichnungen tragen kein Gramm Fett. Sie sind aber auch nicht hager. Sie tragen die Qualität der steinzeitlichen Höhlengravuren. „Bärschlein, Bärschlein, Du schwimmst einen schweren Schwumm“, wandelt Muller die Luther zugedachte Prophezeiung ab. Und dies dürfte einer jener Momente gewesen sein, in denen der Zeichnend-Schreibende sich selbst über die Schulter sehend, schmunzelte. Ja, der Zeichner zeichnet immer, weil er immer sieht und geradezu leidenschaftlich zeichnet er blind... „was befreit“!

Seine Landschaften stellen so etwas wie strichweise Vertäuungen geologischer Gegebenheiten dar. Überall wird die filternde Präsenz des Künstlers deutlich, das Weglassen und Hervorheben, Ver-Wenden nenn ich’s mal, ein Triften auch, ein in die Konstellation der Partnerelemente einfügen, Blätter von elementarer Eindringlichkeit. Zeichnungen nahe wie die eigenen Nieren, der warme Atem, der über die schreibende Hand streicht.

„Wir haben es mit in der Landschaft aufgehängten Fragmenten zu tun“ zitiere ich eine Notiz und „Es sind Augenblicke intensiver Emotionalität, die durch die Formulierungen Montage-Demontage abgekühlt werden“. „Eine lebenslange Anstrengung mit dem Ziel, die innere Freiheit wieder zu erlangen“, schrieb er woanders.

Ist der Künstler von der Komplettierung seiner eigenen Welt besessen? Wer der Stimmigkeit in diesen Skizzenbüchern begegnet, würde sich das fast wünschen. Ziegenhaltungsgesten, wie zusammen gebellte Dörfer; Strichdichten zu Entenpulsschlägen, optische Rezeptstrategien, ein äußerst lebendiger Reiter aus gebändigten Kritzeleien (ein Meisterwerk auf wenigen Zentimetern), Mutter und Kind, fließenden Zuschnitts schnittmusterlogisch, Menschenkonstellationen objektiv, Schweißlastig hingeschrieben, ein tragik-komischer Schwan, fußkrank wie ein Penner, clownesk, witzig, nie diskriminierend, zwei berittene Linien nebeneinander, Kutschenräder mit eigener Perspektive... in diesen Skizzenbüchern wiederholen sich die Er-Eignisse eines gedrängt erfüllten Lebens, das weitergeht: unterwegs ist.

Roland Geiger
Heidelberg, am 25. November 1999

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